Datum: 14 April 2021
Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) hat in ihrer Entscheidung G1/19 vom 10. März 2021 zu drei Vorlagefragen einer technischen Beschwerdekammer (Entscheidung T489/14) Stellung genommen.
Link zur Entscheidung: G1/19 vom 10. März 2021
Die Vorlagefragen lauten:
Zusammengefasst ging es also um die Frage, welche technischen Effekte einem computerimplementierten Simulationsverfahren bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Verfahrens zugeordnet werden können, insbesondere ob solche Effekte dazugehören, die sich erst außerhalb des Computersystems verwirklichen. Diese Frage nutzte die Große Beschwerdekammer, um einige Grundsätze zur Patentierung von computerimplementierten Erfindungen allgemein, also nicht auf Simulationsverfahren beschränkt, zu erläutern. Die wichtigsten Aspekte dieser Entscheidung werden im Folgenden aufgegriffen und zusammengefasst.
Die europäische Patentanmeldung Nr. 03793825.5, die der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zugrunde liegt, beschreibt die Modellierung und Simulation von Bewegungen eines einzelnen Fußgängers innerhalb einer Umgebung, beispielsweise innerhalb eines Gebäudes. Eine Mehrzahl dieser simulierten Bewegungen eines Fußgängers können anschließend Teil einer Simulation einer Bewegung einer Gruppe von Fußgängern sein, um beispielsweise Evakuierungsszenarien besser einschätzen zu können.
Die Modellierung des einzelnen Fußgängers berücksichtigt dabei ein jeweiliges persönliches Profil, dass beispielsweise eine bevorzugte Schrittgeschwindigkeit und/oder Schrittlänge sowie einen persönlichen „Komfortbereich“, innerhalb welchem sich bevorzugt keine anderen Fußgänger oder etwaige Hindernisse befinden, umfasst. Die unten dargestellte Figur 2 der Anmeldung zeigt ein einfaches Beispiel einer Bewegung eines Fußgängers (5) aus einer Startposition (6) zu einer Zielposition (9), wobei sich der Fußgänger um Wände (2), andere feste Hindernisse (4) und andere Fußgänger (10) bewegt.
Im Erteilungsverfahren wurden die Ansprüche der Patentanmeldung u.a. dahingehende spezifiziert, dass es sich bei dem beanspruchten Verfahren um ein „computerimplementiertes“ Verfahren handelt. Die Prüfungsabteilung wies die Anmeldung jedoch mit der Begründung zurück, dass einzig der Computer zum technischen Charakter des Verfahrens beitrage. Die daraufhin zuständige Beschwerdekammer kam zwar zu dem Ergebnis, dass die einzelnen Verfahrensschritte trotz ihres zunächst nicht-technischen Charakters zur Technizität des Verfahrens beitrage können. Dies setze jedoch voraus, dass die Kombination der Verfahrensschritte mit den technischen Merkmalen einen technischen Effekt hervorrufe. Ein solcher technischer Effekt könne beispielsweise darin liegen, dass dem Design der Simulationsschritte technische Erwägungen hinsichtlich interner Funktionsweisen des Computers zugrunde lagen, oder darin, dass der technische Effekt Teil des Gesamtzwecks des Verfahrens ist. Fraglich blieb jedoch, ob ein Simulationsverfahren als solches, also ein Verfahren ohne direkte Einwirkung auf ein reales physikalisches System, überhaupt einen technischen Zweck verfolgt.
Einer der Hilfsanträge (der vierte) setzte den Zweck der Simulation fest, indem er eine Methode zur Bestimmung einer Gebäudestruktur beanspruchte, die basierend auf der Simulation von simulierten Bewegungsdaten für Personen einer Revision unterzogen werden sollte -also eine Angabe eines technischen Effektes.
Zum besseren Verständnis patentrechtlicher Aspekte einer Computersimulation wird im Folgenden zunächst auf computerimplementierte Erfindungen im Allgemeinen eingegangen.
Dem Patentschutz sind Erfindungen aus allen Gebieten der Technik zugänglich, insbesondere also auch computerimplementierte Erfindungen. Eine Voraussetzung für die Patentfähigkeit ist dabei, dass die Erfindung technischer Natur ist. Das bedeutet, dass eine patentfähige Erfindung eine technische Lehre darstellt, die eine Lösung eines technischen Problems unter Verwendung technischer Mittel beschreibt. Eine Lehre hingegen, die keinen technischen Erfolg bezweckt, sondern nur einen abstrakten oder intellektuellen Charakter aufweist, ist vom Patentschutz ausgeschlossen. Unter letztgenannte Kategorie fallen beispielsweise Softwarecodes als solche, aber nicht notwendigerweise ein computerimplementiertes Verfahren, dass durch die Software beschrieben / implementiert wird.
Die Frage, ob ein computerimplementiertes Verfahren, für das Patentschutz ersucht wird, insgesamt einen rein intellektuellen Charakter aufweist, also rein gedankliche Schritte widerspiegelt, kann in der Regel mit dem Verweis auf den „Computer“ als eine technische Vorrichtung verneint werden. Denn es reicht nach ständiger Rechtsprechung aus, dass ein beanspruchtes Verfahren oder System zumindest eine technische Komponente enthält, um die Technizität einer Erfindung herzustellen.
Darüber hinaus setzt die Patentierung einer Idee voraus, dass diese auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, d. h. sich für eine auf dem Fachgebiet versierte Person nicht auf ihr naheliegende Weise aus bereits Bekanntem ergibt. Dieser Frage ist meist ungleich schwerer zu beantworten als die Frage nach der Technizität des Anspruchs insgesamt. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein beanspruchtes Verfahren sowohl technische als auch nicht-technische (also beispielsweise „gedankliche“) Merkmale umfasst. So sind zwar beispielsweise Datenübertragung und Datenspeicherung technischer Natur. Der kognitive Inhalt von Daten zählt jedoch zu den nicht-technischen Merkmalen.
Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bei computerimplementierten Erfindungen wird in Entscheidungen der Beschwerdekammern des EPA häufig der sogenannte COMVIK-Ansatz herangezogen, dessen Anwendbarkeit in der Entscheidung G1/19 ausdrücklich bestätigt wurde. Dabei werden zunächst diejenigen Merkmale des Anspruchs identifiziert, die zum technischen Charakter der Erfindung beitragen. Nur solche Merkmale können eine erfinderische Tätigkeit begründen. Zu den identifizierten Merkmalen können allerdings auch solche zählen, die isoliert betrachtet nicht technischer Natur sind, jedoch mit anderen technischen Merkmalen gemeinsam ein technisches Problem lösen. Gleichzeitig müssen im Anspruch vorhandene, von sich aus technische Merkmale nicht zwangsläufig zur Lösung eines konkreten technischen Problems dienen, im Kontext der Erfindung also nicht zwingend eine technische Funktion aufweisen. Solche Merkmale müssen bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ebenso außer Betracht bleiben wie nicht-technische Merkmale, die nicht zur Lösung eines technischen Problems beitragen.
Zusammenfassend müssen patentfähige Erfindungen also
Um die Voraussetzung unter 1. zu erfüllen, mag die Verwendung eines Computers bereits ausreichen. Zur Erfüllung der Voraussetzungen unter 2. (die u.a. als zusätzlicher Filter auf solche Merkmale abstellt, die technische Wirkungen haben) und 3. kann dies allein jedoch nicht genügen. Hierfür müssen die in Frage kommenden Merkmale einen technischen Effekt aufweisen, um das bestimmte technische Problem lösen zu können. So wird sichergestellt, dass der „Problem-Solution-Approach“ auch bei einem Mix von technischen und nichttechnischen Merkmalen angewendet werden kann.
Im Zusammenhang mit computerimplementierten Verfahren können an verschiedenen Stellen technische Effekte erzeugt werden. Wie in untenstehender Figur (entnommen von S. 39 der Entscheidung G1/19) vereinfacht illustriert, treten technische Effekte bei computerimplementierten Prozessen beispielsweise während
(i) technischem (also nicht abstrakten) Signal-Input, wie Messsignalen, (ii) technischem Signal-Output, wie Kontrollsignalen, und (iii) interner Datenverarbeitung auf. Auch wenn Input und Output des Computersystems in der Regel „reine Daten“ sind, stellen sowohl der technische Signal-Input als auch der technische Signal-Output Verbindungen zur physikalischen Umgebung dar, und sind daher technischer Natur. Wie dargestellt, kann solcher Input oder Output auch während des Prozessablaufs geschehen. Und auch die interne Datenverarbeitung kann einen technischen Effekt, wie beispielsweise eine verbesserte Nutzung von Speicherkapazität oder Bandbreite, erzielen, beispielsweise durch die Anpassung eines Computersystems oder seiner Arbeitsweise.
Um zum technischen Charakter eines beanspruchten Verfahrens oder einer Vorrichtung beizutragen, muss ein Anspruchsmerkmal jedoch nicht zwingend einen direkten technischen Effekt auf seine physikalische Umgebung haben. Vielmehr kann es ausreichen, dass ein bestimmtes Merkmal einen potentiellen oder möglichen technischen Effekt hat, sofern dieses Merkmal speziell für eine vorgesehene technische Verwendung geeignet oder angepasst ist, selbst wenn diese Verwendung nicht beansprucht wird. Derart kann beispielsweise ein spezieller Signal-Output eines beanspruchten Prozesses zur Regelung einer technischen Vorrichtung, die selbst nicht im Anspruch definiert ist, einen technischen Effekt aufweisen. Das bedeutet, dass der technische Effekt, den ein solcher Signal-Output in der vorgesehenen Verwendung (also einem nichtbeanspruchten nachfolgenden Verfahrensschritt) haben kann, als implizit vom beanspruchten Prozess beinhaltet betrachtet wird.
Dies gilt jedoch nicht unbedingt auch für Merkmale, wie beanspruchte Daten oder Signal-Outputs, die neben der Verwendung für eine bestimmte technische Vorrichtung oder eine bestimmte Verwendung noch weitere Verwendungsmöglichkeiten haben. Hier würde evtl. ein möglicher resultierender technischer Effekt nunmehr nicht mehr über die volle Breite des Anspruchs erreicht werden.
Doch nun zum Kern der ersten Vorlagefrage: Können technische Effekte auftreten, die gar keinen Einfluss auf eine physikalische Umgebung haben, sondern, beispielsweise in Verbindung mit computergestützten Simulationsverfahren, auf Berechnungen von physikalischen Eigenschaften basieren, die zwar nahe an die Realität heran reichen, jedoch stets nur Daten bleiben? Ein Anspruch, der die Berechnung technischer Informationen betrifft, ohne jedoch auf eine spezielle technische Verwendung beschränkt zu sein („die Simulation als solche“), würde ansonsten weiterhin nur Daten beschreiben, und folglich keine – bzw. zumindest keine über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs bestehende – technische Erfindung darstellen.
Dazu ist zunächst anzumerken, dass ein technischer Effekt nicht „greifbar“ oder „dinghaft“ sein muss. Vielmehr können auch solche Erfindungen patentiert werden, die nicht materieller Natur sind, wie beispielsweise eine Impuls-Folge für einen Defibrillator. Der Frage, wo ein technischer Effekt entstehen muss, also ob sich dieser in einer physikalischen Umgebung des Computers realisieren muss, wird im Folgenden anhand Überlegungen zu Computersimulationen nachgegangen.
Was das spezielle Gebiet der computerimplementierten Simulationen betrifft, so können diese gemäß den Ausführungen der Großen Beschwerdekammer in drei Merkmalsgruppen aufgeteilt werden:
Das numerische Modell und die Gleichungen, die das Modell darstellen, sind rein mathematischer Natur, unabhängig davon welches System oder welcher Prozess modelliert wird. Das Bereitstellen des Modells und der Gleichungen stellt daher eine rein mentale Handlung dar (auch wenn diese Handlungen von einem Computer durchgeführt werden). Das numerische Modell repräsentiert folglich die Rahmenbedingungen für eine Simulation, die an sich nicht technisch sind.
Dennoch kann ein solches Modell zum technischen Charakter der Erfindung beitragen, beispielsweise wenn es (1) den Grund für eine Anpassung eines Computersystems oder die Arbeitsweise des Computersystems darstellt, und/oder wenn es (2) zu einem technischen Effekt beiträgt, der mit dem Ergebnis der Simulation verbunden ist.
Ebenso wie die Bereitstellung eines Modells und der zugrunde liegenden mathematischen Gleichungen ist das Formulieren von Algorithmen eine kognitive Aufgabe. Dennoch können auch Algorithmen zum technischen Charakter einer Erfindung beitragen, wenn Sie einen technischen Effekt (mit)erzielen. Solche technischen Effekte müssen nicht zwingend einen Bezug auf die physikalische Umgebung haben. Die der Software zugrunde liegenden Algorithmen können auch zum technischen Charakter einer Erfindung beitragen, wenn Sie auf die interne Arbeitsweise des Computersystems anpassen, beispielsweise speziell basierend auf technischen Gegebenheiten hinsichtlich der internen Arbeitsweise eines Computersystems entwickelt worden sind.
Aus dem Gesagten folgt, dass computerimplementiertes Simulationen nicht anders zu behandeln sind als andere computerimplementierte Prozesse, die sowohl technische als auch nicht technische Merkmale umfassen. Deshalb sind auch auf computerimplementierte Simulationen die oben genannten Grundsätze des COMVIK-Ansatzes anwendbar.
Manche Simulationen von technischen Systemen mögen nicht zu einem technischen Effekt beitragen. So löst eine Simulation eines gespielten Billardballs in einem Computerspiel nicht unbedingt ein technisches Problem. Andererseits ist es durchaus möglich, dass Simulationen eines nicht-technischen Systems wie die Simulation von Wetterdaten zu einem technischen Effekt beitragen. Mit anderen Worten: Es ist nicht entscheidend, welches System simuliert wird, insbesondere nicht ob das simulierte System technischer Natur ist oder nicht. Vielmehr ist entscheidend, ob die Simulation des Systems oder Prozesses zur Lösung eines technischen Problems beiträgt.
Computerimplementierte Erfindungen, wie beispielsweise Simulationsverfahren, können neben technischen Merkmalen auch nicht-technische Merkmale aufweisen. Dabei gilt, dass beide Merkmalsarten zur Lösung eines technischen Problems durch das Hervorrufen eines technischen Effekts beitragen können. Inwieweit die einzelnen Merkmale zur Lösung des technischen Problems beitragen oder nicht und damit bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden können, bedarf einer individuellen Merkmalsanalyse im Kontext der Erfindung. Wichtig ist dabei, dass sich die technischen Effekte, auf die sich im späteren Verfahren berufen werden kann, bereits in der ursprünglich Eingereichten Patentanmeldung beschrieben sind.
Die Beschwerdekammer definiert dabei eine Simulation als eine annähernde Nachahmung der Arbeit eines Systems oder Prozesses auf der Basis eines Modells dieses Systems oder Prozesses.
Für die Ansprüche ist entscheidend, dass die darin festgelegten Merkmale entweder:
(1) einen Effekt auf den Computer hervorrufen, der über die normalerweise ablaufenden Wechselwirkungen zwischen dem Programm und dem Computer hinausgehen, also technische Auswirkungen auf den Computer selbst (seine Funktionsweise, oder seine Hardwareausstattung) haben, oder
(2) dass darin (auch in der Beschreibung dargelegte) beschränkende Merkmale enthalten sein müssen, die (auch ohne direkten technischen Link zur Umgebung) die Lösung eine technischen Aufgabe ermöglichen oder zu der Lösung beitragen. Ist eine solche Verwendung nicht – mindestens implizit – in den Ansprüchen spezifiziert, wird es für diesen Zweck nicht berücksichtigt. Mit anderen Worten: die Modelle einer Computersimulation müssen die Basis einer weiteren technischen Anwendung ihrer Ergebnisse bilden (z.B. eine Verwendung, die Auswirkungen auf die physikalische Realität haben).
Auch beides ist selbstverständlich denkbar, auch wenn die Kammer es nicht ausdrücklich hervorhebt.
Rein kognitiver Inhalt von Daten ist nicht technischer Natur. Entsprechende Merkmale müssen über den ganzen Anspruchsumfang weg technischen Charakter haben. Trägt ein Merkmal nur über einen Teil des Schutzbereichs des Anspruchs und für bestimmte darin umfasste Verkörperungen eine technische Wirkung bei, ist diese Bedingung nicht erfüllt.
Die Antworten der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G1/19 auf die oben aufgeführten Vorlagefragen lauten daher:
Sollten Sie Fragen zu diesem Thema oder speziell zum Schutz Ihrer computerbasierten Erfindungen haben, stehen Ihnen unsere Experten gerne zur Verfügung. Insbesondere beraten wir Sie gerne darüber, wie Ansprüche und Patentanmeldungen bei Simulationen formuliert sein sollten, damit die genannten Merkmalserfordernisse (1) Auswirkungen auf die Wirkungsweise des Computers oder den Computer selbst und/oder (2) Bildung der Basis für eine weitere technische Verwendung des Ergebnisses der Simulation erfüllt sind und Sie so geeignet sein können, das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit und der Patentierbarkeit zu erfüllen.
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