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Anmerkungen

Harmonisierung sogenannter „Bolar Exemptions“ in Europa

Datum: 23 August 2023

 

Die "Bolar Exemption" ist eine Ausnahme von dem durch ein Patent gewährten ausschließlichen Recht, welche die Verwendung patentierter Produkte in Versuchen zur Erlangung der Zulassung von Arzneimitteln gestattet.

 

Implementierung der Bolar Exemption im Vereinigten Königreich

 

Vor dem 1. Oktober 2014 erlaubte das britische Patentgesetz solchen Unternehmen, die für den Nachweis der Gleichwertigkeit eines Generikums mit einem patentierten Arzneimittel erforderlichen regulatorischen Tests durchzuführen. Dies bedeutete, dass Generikahersteller lediglich, dass sie die erforderliche behördliche Genehmigung für die Markteinführung ihrer Produkte vor Ablauf des Patents zum Schutz des Originalpräparats einholen durften, so dass bei Ablauf des Patents die Genehmigung für das Inverkehrbringen bereits erteilt war. Weitergehende klinische oder Feldversuche waren ausgeschlossen. Zum damaligen Zeitpunkt galt im Vereinigten Königreich die EU-Richtlinie 2001/83/EG über Humanarzneimittel. In Deutschland[1] und Frankreich[2] hingegen waren (und sind) die entsprechenden Bestimmungen der gleichen europäischen Richtlinie nicht auf Versuche mit Generika oder Biosimilars beschränkt (siehe unten).

 

Nach intensiver Lobbyarbeit der Industrie bei der britischen Regierung zur Erleichterung von Versuchen mit bestehenden Arzneimitteln und der Entwicklung neuer, nicht generischer Arzneimittel, z. B. Versuche mit neuen Arzneimitteln, die in den Geltungsbereich eines Patents fallen oder Vergleichsstudien mit einem bekannten patentierten Arzneimittel erfordern, erweiterte die britische Regierung 2014[3] die Ausnahme für "experimentelle Verwendung" in Abschnitt 60(5)(b) des Patentgesetzes von 1977 durch die Hinzufügung von Abschnitten 60(6D) und 60(6E):

 

Für die Zwecke von Absatz 5 b) ist alles, was in oder für die Zwecke einer Arzneimittelprüfung getan wird, die andernfalls eine Verletzung eines Patents für eine Erfindung darstellen würde, als zu Versuchszwecken im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Erfindung getan anzusehen, wobei „Arzneimittelprüfung“ beinhaltet:

 

  • Versuche zur Bereitstellung von Daten für die Erlangung der Genehmigung für das Inverkehrbringen und die Einhaltung der damit verbundenen Vorschriften überall auf der Welt (im Gegensatz dazu erlauben einige entsprechende Bestimmungen in bestimmten anderen EU-Ländern nur Versuche zum Zwecke der Erlangung der Genehmigung für das Inverkehrbringen und der Einhaltung der Vorschriften in der EU); und

 

  • Ermöglichen für einen jeden (Regierung, Behörde oder jede natürliche oder juristische Person, irgendwo), der/die die Aufgabe hat, die öffentliche Gesundheitsversorgung (irgendwo) zu gewährleisten, oder einer solchen Behörde hinsichtlich der Bereitstellung der Gesundheitsversorgung Hinweise zu geben mit dem Ziel, ihr eine Bewertung der Eignung eines Arzneimittels (typischerweise als "Health Technology Assessment" bezeichnet, z. B. durch das National Institute for Clinical Excellence) zu ermöglichen, um zu entscheiden, ob es für seinen angegebenen Zweck verwendet oder empfohlen werden soll.

 

Unterschiede in der Anwendung in Europa

 

Insgesamt gibt es in Europa verschiedene Varianten der Bolar Exemption, die sich bezüglich (a) den ausgenommenen Handlungen, (b) der Frage, ob die Versuche für die Zulassung in der EU oder darüber hinaus durchgeführt werden, und (c) der Frage, ob die Versuche auch für ein „Health Technology Assessment“ durchgeführt werden können, kategorisieren lassen. In der folgenden Tabelle sind einige Unterschiede zusammengefasst:

 

 

Vom Schutz ausgenommene Handlungen

 

Die Befreiung ist auf Handlungen im Zusammenhang mit der Marktzulassung von Generika, Bioäquiva­lenten und Biosimilars beschränkt

 

Umfassendere Be­frei­ung für alle Handlungen, die für die Markt­zu­lassung erforderlich sind, sowie für Hand­lungen im Zusammen­hang mit innovativen Arzneimitteln[4]

 

Weitere Befreiung für Health Technology Assessment (z.B. für bereits zugelassene Medikamente)

Marktzulassung nur in der EU

 

Belgien, Zypern, Griechenland, Niederlande[5] und Schweden

Bulgarien, Tschechische Republik, Estland, Finnland, Frankreich, Ungarn, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien und Spanien.

 

Marktzulassungen innerhalb oder außerhalb der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)

 

Österreich, Deutschland,

Dänemark, Irland, Italien und Vereinigtes Königreich

Irland, Vereinigtes Königreich

 

 

In die Kategorie Umfassender Befreiung fallen auch Island, Norwegen und die Schweiz. Island und Norwegen sind EWR-Staaten. Die Schweiz ist weder Mitglied der EU noch des EWR, aber Teil des Binnenmarktes.

 

Diese britische Einschränkung des Patentschutzes (oder, wenn man so will, die Ausweitung der Ausnahmeregelung für die "experimentelle Verwendung") soll Unternehmen dazu ermutigen, ihre Forschung und klinischen Versuche im Vereinigten Königreich durchzuführen, wenn diese Versuche erforderlich sind, um eine Marktzulassung für innovative Arzneimittel zu erhalten. Dies wird sich voraussichtlich positiv auf die britische Wirtschaft auswirken. Analoges gilt für die derzeitige Regelung in Deutschland.

 

Entwurf für eine neue Pharmazeutische Richtlinie für die EU:

 

Die europäische Kommission hat einen neuen Richtlinienentwurf 2023/0132 veröffentlicht, der die bestehende Richtlinie 2001/83/EG (und die Richtlinie 2009/35/EG über Stoffe, die Arzneimitteln zum Zwecke der Färbung hinzugefügt werden dürfen) ersetzen soll.

 

In dem Richtlinienentwurf wird unter anderem vorgeschlagen, die Bolar Exemption europaweit in einigen wichtigen Punkten zu harmonisieren.  Die Ausnahmeregelung soll sich (Erwägungsgrund 63) auf die Durchführung von Studien und Versuchen und andere Tätigkeiten beschränken, die für das behördliche Genehmigungsverfahren, die Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health technology assessment) und die Beantragung von Kostenerstattungen erforderlich sind. Die Ausnahmeregelung soll gelten, auch wenn dies erhebliche Mengen an Testproduktionen zum Nachweis einer zuverlässigen Herstellung erfordern kann. Während der Schutzdauer des Patents oder des ergänzenden Schutzzertifikats für das Referenzarzneimittel dürfen die daraus resultierenden Fertigarzneimittel, die für die Zwecke des behördlichen Zulassungsverfahrens gewonnen wurden, jedoch nicht kommerziell genutzt werden.

 

So sieht Artikel 85 des Richtlinienentwurfs vor, dass Patentrechte und Ergänzende Schutzzertifikate nicht als verletzt angesehen werden, wenn ein Referenzarzneimittel für die Zwecke von Studien, Versuchen und anderen Tätigkeiten verwendet wird, die zur Gewinnung von Daten für einen Antrag auf

 

(i) eine Genehmigung für das Inverkehrbringen von Generika, Biosimilars, Hybrid- oder Biohybridarzneimitteln und für nachfolgende Änderungen;

 

(ii) Gesundheitstechnologiebewertung im Sinne der Verordnung (EU) 2021/2282;

 

(iii) Preisfindung und Kostenerstattung

dienen.

 

Der Richtlinienentwurf bezieht sich auch auf Artikel 27(d) des Übereinkommens über das Einheitliche Patentgericht, um die neu formulierte Ausnahme auf dieses Übereinkommen anzuwenden.

 

Kommentar

 

Wäre die Bolar-Ausnahme auf die Partei beschränkt, die die Tests durchführt, um die Genehmigung für das Inverkehrbringen zu erhalten, wäre die Ausnahme stark eingeschränkt. Generikahersteller, die die Tests durchführen wollen, wären gezwungen, sich an Lieferanten außerhalb der EU in Ländern zu wenden, in denen kein Patentschutz besteht. Dies liegt nicht im Interesse der europäischen Industrie, für die die Ausnahmeregelung erlassen wurde. Andererseits würde die Genehmigung der Bevorratung von patentgeschützten Arzneimitteln durch Generikahersteller innerhalb der EU für den ungewissen Zweck der Belieferung von Kunden, die sie für Bolar-Tests verwenden können oder nicht, eine Aushöhlung des traditionellen Patentausschließungsrechts bedeuten. Der Richtlinienentwurf zielt darauf ab, die Ausnahmeregelung zu erweitern, um ein besseres Gleichgewicht zu erreichen.

 

Die Umsetzung der Richtlinie dürfte auch eine besondere Form des Forum Shopping verhindern, die derzeit in ganz Europa besteht.  Gegenwärtig können Patentanmelder ihre bevorzugte Bolar-Ausnahmeregelung wählen, indem sie ein europäisches Patent anmelden, das auf den Namen eines Unternehmens mit Sitz in einem Mitgliedstaat (z. B. Belgien, Niederlande oder Schweden) eingetragen ist, für den eine engere Ausnahmeregelung gilt, und ein solches Patent als einheitlich wirksam erklären.

 

 

 

[1] § 11 Nr. 2b. Patentgesetz: „Die Wirkung eines Patents erstreckt sich nicht auf:

…Studien und Versuche und die sich daraus ergebenden praktischen Anforderungen, die für die Erlangung einer arzneimittelrechtlichen Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Europäischen Union oder einer arzneimittelrechtlichen Zulassung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder in Drittstaaten erforderlich sind“. Anzumerken ist hier, dass keine beabsichtigte Unterscheidung zwischen „Genehmigung“ und „Zulassung“ anzunehmen ist. Erstere entspricht dem für die EU genutzten „Marketing Approval“, der letztere Ausdruck ist generischer.

[2] Code de la propriété intelectuelle Article L613-5 d): „Die aus dem Patent beigetragenen Rechte erstrecken sich nicht auf:

… Studien und Versuche, die erforderlich sind, um eine Genehmigung für das auf den Markt bringen eines Medikaments zu erhalten, wie auch auf Handlungen, die notwendig sind, um dieses zu verwirklichen und für das Erhalten der Genehmigung“. Es ist denkbar, dass der Begriff „Markt“ sich hier auf den EU-Markt bezieht, doch scheinen Kommentatoren die Ansicht zu vertreten, dass er für den weltweiten Markt steht.

[3] The Legislative Reform (Patents) Order 2014 (S.I. 2014/1997)

[4] Quelle: http://www.wipo.int/wipo_magazine/en/2014/03/article_0004.html

[5] Bestätigt in Organon v. ARS Oberster Gerichtshof Niederlande vom 23. Juni 1995, BIE 1997/41

 

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