Datum: 28 September 2022
Urteil des Europäischen Gerichtshofs (C-44/21) mit Bezug zur europäischen Enforcement-Richtlinie (2004/48/EG):
Der europäische Gerichtshof hat in einem am 28. April 2022 veröffentlichten Urteil zu einer Vorlagefrage des Landgerichts München I Stellung genommen, die sich mit dem Erlass einstweiliger Verfügungen (eV) in Patentstreitsachen beschäftigt.
Hintergrund der Entscheidung war die bestehende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (OLG) in Deutschland, wonach es für den Erlass einer einstweiligen Verfügung (eV) im Falle einer drohenden Patentverletzung grundsätzlich nicht (!) ausreicht, dass das vom Patentinhaber geltend gemachte Patent lediglich von der Erteilungsbehörde (EPA, DPMA) nach eingehender Prüfung erteilt wurde. Vielmehr hatten in der Vergangenheit Oberlandesgerichte (maßgeblich aufgrund der Düsseldorfer Praxis) gefordert, dass der Rechtsbestand des erteilten Patents in einem weiteren Verfahren erneut bestätigt worden ist, also das Patent eine zweite „Feuertaufe“ durchlaufen hat. Hierunter verstanden die Gerichte beispielsweise eine positive Entscheidung zum Rechtsbestand des Patents am Ende eines Einspruchs-/Beschwerdeverfahren (beim EPA/DPMA) oder eines nationalen Nichtigkeitsverfahrens (beim Bundespatentgericht).
Das LG München I hatte in seiner Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof dabei die Ansicht vertreten, dass eine solch strikte Auslegung, die notwendigerweise in einer sehr restriktiven Erlass-Praxis von eV mündet, europarechtswidrig sei, da diese Grundsätze nicht mit der Regelung gemäß Art. 9 (1) der Enforcement-Richtlinie (RL 2004/48/EG) in Einklang stünden. Die Enforcement-RL regelt dabei auf europäischer Ebene, wie Schutzrechtsinhaber ihre Rechte gegenüber Verletzern durchsetzen können.
Nach der alten geltenden Rechtsprechung bedurfte es folglich für den Erlass einer eV neben einem Verfügungsanspruch (Verletzung des geltend gemachten Patents), einem Verfügungsgrund (Dringlichkeit) und einer Abwägung der Interessen von Antragsteller und Antragsgegner auch der Glaubhaftmachung einer hinreichend gesicherten Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents.
Inhalt der Entscheidung
In seinem abschließenden Leitsatz kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die besagte Richtlinie so auszulegen sei, dass diese
„einer nationalen Rechtsprechung entgegenstehe, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens überstanden hat“.
(Anmerkung: „grundsätzlich“ bedeutet in der Sprache der Juristen „in der Regel“, nicht wie in der Alltagssprache „immer“).
Zur Begründung führt der EuGH unter anderem aus, dass die bisher praktizierte restriktive Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein Erfordernis aufstelle, welches der besagten Richtlinie, genauer deren Art. 9 (1), „jede praktische Wirksamkeit“ nehme, da es dem nationalen Richter verwehrt sei, im Einklang mit dieser RL eine eV anzuordnen, um eine Verletzung eines „von ihm als rechtsbeständig und verletzt erachteten Patents unverzüglich zu beenden“.
Einordnung der Entscheidung
Unterstützer des Urteils sehen sich nun darin bestätigt, dass die bisherige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte die Durchsetzung von einstweiligem Rechtsschutz aus erteilten Patenten in unzulässiger Weise beschränkt hat. Entsprechend rechnen diese nun damit, dass die deutschen Gerichte (was wohl vor allem für das LG München I zutreffen dürfte) nun sehr viel eher bereit sind, solchen Schutz zu gewähren, auf Basis der nun vorliegenden Entscheidung des EuGH.
Allerdings sind auch kritische Stimmen zu vernehmen: Das EuGH-Urteil lasse nämlich außer Acht, dass die bisherige Rechtsprechung der deutschen OLGs durchaus ausdifferenziert sei und dabei zahlreiche Ausnahmetatbestände anerkenne, die es erlauben, von dem grundlegenden Erfordernis einer positiven Rechtsbestandsüberprüfung abzuweichen.
So gab es bislang bereits den Ausnahmetatbestand, dass eine eV auch ohne eine solche Rechtsbestandsüberprüfung erlassen werden kann, wenn eine erhöhte Gewähr des Rechtsbestands des Patents besteht. Dies wurde in der Vergangenheit von Gerichten angenommen, wenn sich Wettbewerber des Patentinhabers am Erteilungsverfahren mittels Eingabe Dritter beteiligt hatten und so zusätzlichen Stand der Technik in das Verfahren eingebracht hatten. Hierbei wurde angenommen, dass dies die Qualität des Erteilungsverfahrens wesentlich verbessert habe, sodass davon ausgegangen werden könne, dass das erteilte Patent in dem Umfang, in dem es erteilt wurde, auch rechtsbeständig ist.
Ein zweiter Ausnahmetatbestand besteht nach bisheriger deutscher Rechtsprechung dann, wenn ein Ablauf des betroffenen Schutzrechts droht und somit der Rechtsschutz nur noch einstweilig durchgesetzt werden kann, da eine Patentverletzungsklage im Hauptsacheverfahren erst nach dem Ablauf des Schutzrechts entschieden werden kann.
Ein dritter Ausnahmetatbestand wurde angenommen, wenn ein Angriff auf den Rechtsbestand des Patents, den der Verletzter unternommen hat, ganz offensichtlich keinen Erfolg haben konnte.
In allen diesen Fällen waren die deutschen Gerichte dann von der grundsätzlichen Regel abgewichen und hatten also eV erlassen, auch wenn das Patent gerade nicht in einem zweiten Verfahren hinsichtlich des Rechtsbestands überprüft worden war. Es muss aber zunächst wohl zugegeben werden, dass diese Ausnahmefälle nur einen kleinen Teil von Verfahren betreffen, in denen der Patentinhaber einstweiligen Rechtsschutz aus einem erteilten Patent zu erlangen sucht.
Die Zögerlichkeit der deutschen Oberlandesgerichte, eV zu erlassen, beruhte und beruht weiterhin auch auf der Abwägung zwischen den schützenswerten Interessen der beteiligten Parteien: Einerseits soll ein Missbrauch von eV vermieden werden; andererseits scheint es für die Gerichte - bei Vorliegen eines Ausnahmetatbestands - für zulässig und geboten unter Umständen eine Fehlentscheidung in Kauf zu nehmen und sich beim Erlass der eV auf den Erteilungsakt der Patentämter zu verlassen.
Nach Ansicht dieser Kritiker belegen die oben zitierten (praxisrelevanten) Ausnahmen gerade, dass der Erlass von eV ohne Vorliegen eines positiven Rechtsbestandsverfahrens von den deutschen Gerichten nicht (!) grundsätzlich abgelehnt wurde, sondern im Einzelfall auch bisher möglich war.
Interessant ist dabei jedoch, dass gerade das LG München I in seiner Vorlagefrage angeführt hatte, dass sich die Antragsgegnerin der eV bereits am Erteilungsverfahren des in Rede stehenden Patents beteiligt hatte, was just einen der obigen anerkannten Ausnahmetatbestände betrifft. Das LG München I hatte dies aber als irrelevant angesehen und in der Vorlagefrage formuliert, dass es sich am Erlass der beantragten eV aufgrund der Rechtsprechung des OLG München gehindert sehe, wonach für einen solchen Erlass eine positive Rechtsbestandsentscheidung im Einspruchs-/Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) hinsichtlich des erteilten europäischen Patents vorliegen müsse.
Ein weiterer wichtiger Hintergrund bei der Frage, wie mit dem Erlass von eV umgegangen werden soll, ist die derzeitige Qualität der Erteilungsverfahren: So zeigen Statistiken der vergangenen zehn Jahre, dass in einem Rechtsbestandsüberprüfungsverfahren etwa ein Drittel der Teilpatente vollständig vernichtet wird, während ein weiteres Drittel zumindest eingeschränkt wird, sodass nicht der ursprüngliche breite Schutzumfang bestehen bleibt.
Gerade der letzte Punkt kann aber beispielsweise beim Antrag auf eine eV Berücksichtigung finden, nämlich dann, wenn der Patentinhaber sein Patent - zumindest hilfsweise - nur eingeschränkt geltend macht. Denn in diesem Fall muss das zuständige Gericht auch die Aussichten des Rechtsbestands des eingeschränkten Schutzumfangs prüfen, was den Erlass einer eV grundsätzlich wahrscheinlicher macht.
Auch wenn also die Entscheidung des EuGH auf den ersten Blick einen Paradigmenwechsel anzuzeigen scheint, ist die derzeitige Sicht der OLGs in Deutschland so, dass die Entscheidung, insbesondere der besagte Leitsatz, das differenzierte Vorgehen der deutschen Gerichte unter Berücksichtigung von Ausnahmetatbeständen nicht grundsätzlich infrage stellt, sodass die etablierte OLG-Rechtsprechung nicht aufgegeben werden müsse. Ebenso sehen die OLGs derzeit keinen Anlass, eine erneute Vorlage an den EuGH zu richten.
Diese Ansicht der OLGs stößt aber derzeit bei vielen Praktikern auf weitgehendes Unverständnis. Beispielsweise ist fraglich, ob die Entscheidung des EuGH nicht so zu verstehen ist, dass grundsätzlich vom Rechtsbestand eines erteilten Patents auszugehen ist und das Verweigern des Erlasses einer eV nicht die Regel, sondern die Ausnahme darstellen soll.
Vertreter deutscher Gerichte äußern diesbezüglich jedoch große Bedenken, da die deutschen Gerichte in der Praxis oftmals nicht in der Lage seien, den technischen Sachverhalt, der einem erteilten Patent zu Grunde liegt, so zu beurteilen, dass sich das Gericht eine belastbare Meinung über den Rechtsbestand des erteilten Patents selbstständig bilden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die deutschen Gerichte über keinerlei technische Richter verfügen.
In diesem Zusammenhang wird es interessant sein, inwiefern hier das neue Einheitliche Patentgericht, bei dem auch technische Richter Teil des Spruchkörpers sind, eine Verbesserung bieten kann, da dort das nur in Deutschland geltende Trennungsprinzip zwischen Patentverletzungsklageverfahren auf der einen Seite und Rechtsbestandverfahren auf der anderen Seite aufgehoben ist, sodass das neue Einheitliche Patentgericht zukünftig zum Rechtsbestand eines strittigen Patents grundsätzlich Stellung nehmen kann und muss.
In der Praxis wird es dabei weiterhin darauf ankommen, dass gerade die Schriftsätze, die zur Beantragung einer eV oder aber zur Abwehr einer solchen Maßnahme eingereicht werden, sorgfältig ausgearbeitet sind, da sich die deutschen Gerichte nach wie vor im Einzelfall mit der Rechtsbeständigkeit des jeweiligen Patents beschäftigen müssen. Hier kommt es besonders darauf an, eine verständliche Sprache zu wählen, damit die Gerichte in die Lage versetzt werden, den technischen Zusammenhängen zu folgen.
Grundsätzlich bleibt es auch weiterhin dabei, dass ein Angriff auf den Rechtsbestand eines erteilten Patents von Seiten des Antragsgegners der eV grundsätzlich immer (!) erforderlich ist, damit ein Gericht im Einzelfall überhaupt gegen den Erlass einer eV entscheiden kann. Um die eigenen Argumente zu stärken, kann dabei auch auf Gutachten zurückgegriffen werden, etwa eines zweiten Patentamts, welches im Auftrag einer der Parteien eine Bewertung zum Rechtsbestand des Patents abgegeben hat. Auch dies können gewichtige Argumente sein, die die deutschen Gerichte beim Erlass von eV berücksichtigen.
Fazit
Positiv für Patentinhaber erscheint an der Entscheidung des EuGH, das wohl zukünftig die Schwelle für den Erlass von eV durch deutsche Gerichte eher geringer ausfallen könnte.
Aus Sicht von vermeintlichen Patentverletzern, die sich mit einem Antrag auf Erlass einer eV eines Patentinhabers konfrontiert sehen, besteht hingegen die Gefahr, dass hier Rechtsschutz gewährt wird, der sich später als unbegründet herausstellt. Auch hier wird es also in Zukunft darauf ankommen, präzise und für die Gerichte verständlich Argumente vorzutragen, die den Rechtsbestand des erteilten Patents in Zweifel ziehen und somit das Gericht - bei Abwägung der schutzwürdigen Interessen - zu dem Ergebnis bringen, dass der Erlass einer eV nicht angezeigt ist.
Zögern Sie nicht, sich an unsere Experten zu wenden, sofern Sie Fragen bezüglich einstweiligem Rechtschutz aus Patenten und anderen Schutzrechten haben.
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